Schon mit seinem Beschluss im Eilverfahren vom 11.5.2020 (NJW 2020, 1946) hatte das BVerfG zu erkennen gegeben, dass es die Impfpflicht gegen Masern für verfassungskonform hält. Insofern ist es wenig überraschend, dass der Beschluss im Hauptsache-Verfahren vom 21.7.2022 (NJW 2022, 2904) dies jetzt bestätigt.
Überraschend sind aber Teile der Begründung: Nach einer ausführlichen Darstellung, warum und wie schwer die Pflicht zum Nachweis einer Masern-Schutzimpfung und die an die Nichterfüllung dieser Pflicht geknüpften Rechtsfolgen (Betreuungsverbot in Kindertageseinrichtungen) in die Grundrechte von Kindern (Art. 2 Abs.2 Satz 1 GG) und Eltern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) eingreifen, musste das Gericht ja begründen, dass diese Eingriffe dennoch mit dem Grundgesetz vereinbar seien.
Und hier hatten die Karlsruher Richter*innen eine entscheidende Hürde zu überwinden: Denn zu den angegriffenen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes gehört § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG, wonach die Impfpflicht auch besteht, wenn zur Erlangung von Impfschutz gegen Masern ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten.
Dazu greift das Gericht auf die juristische Konstruktion der sogenannten verfassungskonformen Auslegung zurück. Wörtlich schreiben die hohen Richter*innen: Verfassungskonform muss diese Vorschrift (§ 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG) so ausgelegt werden, dass bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten als Masern enthalten, die Pflicht aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG nur besteht, wenn es sich nicht um andere Impfstoffkomponenten als solche gegen Mumps, Röteln oder Windpocken handelt (NJW 2022, 2910).
Die Begründung dieser These des Gerichts klingt dann ein wenig nach Palmström im Gedicht von Christian Morgenstern: Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.
Die Vorschrift des 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG wäre verfassungswidrig, so die Karlsruher Richter*innen, wenn generell alle Kombinationsimpfstoffe zulässig wären. Deswegen kann sie so nicht gemeint gewesen sein. Und deswegen ist sie verfassungskonform so auszulegen, dass nur Kombinationen mit Mumps, Röteln und Windpocken gemeint gewesen sein können. Dafür wird – weil ja der Wortlaut der Vorschrift eindeutig keine Einschränkung enthält (gegen andere Krankheiten) - vom Gericht die Entstehungsgeschichte herangezogen, Tatsächlich heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs, dass diese den Umstand berücksichtigt, dass gegenwärtig ausschließlich Kombinationsimpfstoffe gegen Masern-Mumps-Röteln bzw. gegen Masern-Mumps-Röteln-Windpocken zur Verfügung stehen (NJW 2022, 2011)
Mit Hilfe dieser voluntativen Argumentation wischt das BVerfG den Wortlaut des § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG quasi vom Tisch, und damit ist der Weg frei für die Begründung, dass die Impfpflicht und ihre Folgen insgesamt verfassungskonform seien: Diese dienen dem Schutz einer Vielzahl von vulnerablem Personen, die sich nicht selbst durch eine Impfung schützen können, also dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das bei der sehr hohen Ansteckungsgefahr und der mit einer Masernerkrankung verbundenen Risiken eines schweren Verlaufs beeinträchtigt sei. Deswegen seien die Impfpflicht und die daran geknüpften Folgen rechtlich nicht zu beanstanden. (NJW 2022, 2019).
Die Karlsruher Entscheidung lässt vermuten, dass den Richter*innen die Problematik der Mehrfach-Impfung (gegen den Willen vieler Betroffener) durchaus bewusst war, dass sie jedoch die Verfassungsmäßigkeit der Masern-Impfpflicht daran nicht scheitern lassen wollten. Das ist zwar irgendwie verständlich angesichts des Streits um die Corona-Impfungen, juristisch jedoch zumindest zu hinterfragen.
Konsequenterweise hätte das Gericht § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG für verfassungswidrig erklären müssen. Dies, zumal in der Begründung erwähnt wird, dass in der Schweiz schon ein Mono-Impfstoff gegen Masern vorhanden sei. Das aber ignoriert das Gericht mit dem Argument, dass es in der EU noch keinen Monoimpfstoff gebe und eine staatlich verantwortete Beschaffung des Impfstoffs mit einer Belastung der Allgemeinheit einhergehe. Eine Belastung der Allgemeinheit (gemeint ist vermutlich eine finanzielle Belastung) steht also der erheblichen Einschränkung der Grundrechte von Eltern und Kindern entgegen? Das kann doch nicht ernst gemeint sein, liebe hohe Richter*innen!
Der Beschluss vom 21.7.2022 wird hoffentlich nicht zum Vorbild für weitere Entscheidungen aus Karlsruhe: Denn mit dem Instrument der verfassungskonformen Auslegung und der weiten Auslegung des Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers erscheint kaum noch ein Eingriff in Grundrechte als unvertretbar. Das wird aber der besonderen Aufgabe des Verfassungsgerichts und auch seiner bisherigen Tradition in keiner Weise gerecht.
Ingo Krampen, Rechtsanwalt und Mediator