Am 22. April 2021 wurde von der Bundesregierung die „Notbremse“ gezogen. Das heißt: Es wurde das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) um einen § 28b ergänzt, der im Wesentlichen festschreibt, bei welcher „Sieben-Tage-Inzidenz“ (die durch das Robert Koch-Institut veröffentlichte Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen) bestimmte Rechtsfolgen eintreten: Ausgangssperren, Verbot privater Zusammenkünfte, Schulschließungen, und vieles andere mehr.
Damit ist eine Grenze überschritten, die wir als Jurist*innen nicht mehr widerspruchslos hinnehmen können. Bevor ich das begründe, versichere ich:
- Covid-19 ist eine gefährliche Krankheit, die sehr vielen Menschen in Deutschland und in der Welt Leid und Tod gebracht hat und die unbedingt so effizient wie möglich bekämpft werden muss. Dafür müssen wir alle auch Einschränkungen unserer Freiheit hinnehmen.
- Die verantwortlichen Politiker*innen haben nach meiner Überzeugung bisher einen guten Job gemacht, auch wenn sie – wie wir alle – manche falschen Schlüsse zu dieser rätselhaften Krankheit gezogen und manche Aktionen übereilt oder mit zu wenig Abstimmung untereinander durchgeführt haben.
- Ich bin geimpft (mit AstraZeneca) und halte mich an die Regeln der auf Basis des IfSG erlassenen Corona-Verordnungen.
Aber mit der „Notbremse“ des § 28b IfSG ist die Bundesregierung nun zu weit gegangen. Lassen wir mal dahingestellt, ob dieser Eingriff in das durchaus bisher bewährte Gefüge des Föderalismus verfassungsgemäß ist oder nicht. Entscheidend ist: Diese Bestimmung ordnet an, dass je nach Inzidenz-Wert Maßnahmen und Verbote automatisch greifen. Das heißt: Niemand außer den Zahlen ist mehr verantwortlich für die Einschränkung von Freiheiten und Grundrechten: kein Politiker, kein Wissenschaftler, und auch wir Bürger nicht. Wir werden plötzlich von Inzidenzen regiert, nicht mehr von Menschen.
Das ist fatal! Menschen, die politische Entscheidungen zu treffen haben, können irren, aber sie werden in der Regel nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Und sie sind immer uns Bürgern gegenüber verantwortlich. Inzidenzzahlen tragen keine Verantwortung, sie sind immer „richtig“ und unanfechtbar. Rechtsmittel gegenüber den von ihnen ausgelösten Maßnahmen und Verboten gibt es nicht.
Ich will aber nicht von Inzidenzzahlen regiert werden! Das ist gespenstisch und „Big Brother“ in Reinkultur. Wenn diese Art von Gesetzgebung Schule macht, wird demnächst von Luftschadstoffwerten bestimmt, wann ich Autofahren oder Spazierengehen darf, von meinem Intelligenzquotient, welche Fortbildungen ich besuchen darf, von meinen Blutdruckwerten, welche Unternehmungen ich machen darf und welche nicht.
Ingo Krampen, Rechtsanwalt und Mediator, Notar a.D., Bochum