Gibt es doch Kriterien für den Wert von Menschenleben?

Zum Triage-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16.12.2021

Noch im Jahr 2006 hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zur Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz klargestellt, dass aufgrund der Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf, insbesondere nicht durch eine „gesetzliche Ermächtigung“ (https://barkhoff-partner.de/files/publikation_NJW.pdf):

Dem Staat ist es im Hinblick auf dieses Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde einerseits untersagt, durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Andererseits ist er auch gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen (zitiert nach NJW 2006, S. 757).

Im Triage-Beschluss vom Dezember 2021 liest sich das nun anders: Zwar beteuert der Senat, dass diese Unantastbarkeit der Menschenwürde weiter gelte (NJW 2022, Seite 388); jedoch folgert er aus der von ihm zuvor konstatierten besonderen Schutzpflicht, die der Staat gegenüber Menschen mit Behinderung habe, dass dem Gesetzgeber bei der Erfüllung dieser Schutzpflicht ein „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ zustehe. Damit solle ein hinreichend wirksamer Schutz vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung bewirkt werden (a.a.O., Seite 380).

Die Absicht der Karlsruher Richter ist zweifellos löblich: „Menschen mit einer Behinderung sind in der Coronavirus-Pandemie spezifisch gefährdet. Sie… tragen ein höheres Risiko, schwerer zu erkranken und an Covid-19 zu sterben“ (a.a.O., Seite 381). Das Gericht begründet dann über viele Seiten, dass und warum sich aus Art. 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz eine besondere Schutzpflicht für behinderte Menschen ergebe und dass es derzeit keine materiellen oder verfahrensmäßigen gesetzlichen Grundlagen dafür gebe, wie diese Schutzpflicht im Falle einer Triage-Situation umzusetzen sei. Deswegen werde die Schutzpflicht des Staates hier zur Handlungspflicht (a.a.O. Seite 385).

„Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte befinden sich im Falle einer pandemiebedingten Triage in einer extremen Entscheidungssituation. Sie müssen entscheiden, wem die nicht ausreichend zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Ressourcen zukommen sollen und wem nicht. In dieser Situation kann es besonders fordernd sein, auch Menschen mit einer Behinderung die notwendige medizinische Versorgung zukommen zu lassen.“

Soweit wird sicher jeder dem Gericht zustimmen. Aber dann kommt ein überraschender nächster Satz, der eine Prämisse aufstellt, die es bisher so nicht gab: „Das gelingt nur, wenn sichergestellt ist, dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“ (a.a.O. Seite 387).

Damit wird „die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ zum alleinigen Triage-Kriterium erhoben. Das ist sicher als Prinzip vertretbar. Und es ist auch geeignet, das Risiko einer Benachteiligung von Menschen mit Behinderung zu minimieren. Aber ist dieses Kriterium wirklich immer und in jedem Einzelfall richtig? Und vor allem: Wird die „extreme Entscheidungssituation“ dadurch einfacher, dass ein solches Kriterium gesetzlich festgelegt wird?

Es ist ein Dilemma: Natürlich wollen wir alle, dass in Triage-Situationen nicht willkürlich entschieden wird, und schon gar nicht zum Nachteil von Menschen mit Behinderung. Aber wenn Ärztinnen und Ärzte nicht mehr selbst darüber nachdenken dürfen, was im Einzelfall richtig ist, weil ihnen das vom Gesetz abgenommen wird: Ist dann die Menschenwürde besser gewährleistet?

Noch im Fall der Abschussermächtigung hatten die Karlsruher Richter den Verantwortlichen zugetraut, im Einzelfall die richtige Entscheidung aus eigener Verantwortung zu treffen. Jetzt wird dies den Ärztinnen und Ärzten nicht mehr zugetraut. Damit wird – zweifellos aus guten Gründen – nun doch ein Gesetz gefordert, mit dem Kriterien für die „Abwägung von Leben gegen Leben“ festgelegt werden. Damit verlässt das Bundesverfassungsgericht seinen selbst aufgestellten Grundsatz von 2006, dass eine solche Abwägung gegen die Menschenwürde verstößt.

Ingo Krampen, Rechtsanwalt und Mediator, Notar a.D.

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