Gesetzliche Grundlage für Grundrechtseingriffe geplant

Die Regierungskoalition hat mit der Bundestags-Drucksache 19/23944 vom 3.11.2020 den Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vorgelegt:

Kernpunkt dieses Gesetzes, mit dem im Wesentlichen das Infektionsschutzgesetz noch einmal geändert werden soll, ist ein neu einzufügender § 28a IfSG. Damit wird den verfassungsrechtlichen Bedenken Rechnung getragen, dass die erheblichen Eingriffe in Grundrechte durch das Bundesgesundheitsministerium angesichts des Parlamentsvorbehalts aus Artikel 80 Absatz 1 Satz 1 und Satz 2 des Grundgesetzes bisher ohne ausreichende Ermächtigungsgrundlage erfolgt seien. Daher soll nun eine gesetzliche Präzisierung im Hinblick auf Dauer, Reichweite und Intensität möglicher Maßnahmen vorgenommen werden. Das liest sich wie folgt:

Nach § 28 wird folgender § 28a eingefügt:

§ 28a (Besondere Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2)

(1) Notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Absatz 1 Satz 1 können im Rahmen der Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 durch den Deutschen Bundestag neben den in § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 genannten insbesondere auch sein

  1. Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten sowie im öffentlichen Raum,
  2. Anordnung eines Abstandsgebots im öffentlichen Raum,
  3. Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (Maskenpflicht),
  4. Untersagung oder Beschränkung des Betriebs von Einrichtungen, die der Kultur- oder Freizeitgestaltung zuzurechnen sind,
  5. Untersagung oder Beschränkung von Freizeit-, Kultur- und ähnlichen Veranstaltungen,
  6. Untersagung oder Beschränkung von Sportveranstaltungen,
  7. Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 33 oder ähnlicher Einrichtungen sowie Erteilung von Auflagen für die Fortführung ihres Betriebs,
  8. Untersagung oder Beschränkung von Übernachtungsangeboten,
  9. Betriebs- oder Gewerbeuntersagungen oder Schließung von Einzel- oder Großhandel oder Beschränkungen und Auflagen für Betriebe, Gewerbe, Einzel- und Großhandel,
  10. Untersagung oder Erteilung von Auflagen für das Abhalten von Veranstaltungen,
  11. Untersagung sowie dies zwingend erforderlich ist oder Erteilung von Auflagen für das Abhalten von Versammlungen oder religiösen Zusammenkünften,
  12. Verbot der Alkoholabgabe oder des Alkoholkonsums auf bestimmten öffentlichen Plätzen oder zu bestimmten Zeiten,
  13. Untersagung oder Beschränkung des Betriebs von gastronomischen Einrichtungen,
  14. Anordnung der Verarbeitung der Kontaktdaten von Kunden, Gästen oder Veranstaltungsteilnehmern, um nach Auftreten eines Infektionsfalls mögliche Infektionsketten nachverfolgen und unterbrechen zu können,
  15. Reisebeschränkungen.

Die Anordnung der Schutzmaßnahmen muss ihrerseits verhältnismäßig sein.

(2) Die Schutzmaßnahmen sollen unter Berücksichtigung des jeweiligen Infektionsgeschehens regional bezogen auf die Ebene der Landkreise, Bezirke oder kreisfreien Städte an Schwellenwerten ausgerichtet werden, soweit Infektionsgeschehen innerhalb eines Landes nicht regional übergreifend oder gleichgelagert sind. Schwerwiegende Schutzmaßnahmen kommen insbesondere bei Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen in Betracht. Stark einschränkende Schutzmaßnahmen kommen insbesondere bei Überschreitung eines Schwellenwertes von über 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben in Betracht. Unterhalb eines Schwellenwertes von 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen kommen insbesondere einfache Schutzmaßnahmen in Betracht. Vor dem Überschreiten eines Schwellenwertes sind entsprechende Maßnahmen insbesondere dann angezeigt, wenn die Infektionsdynamik eine Überschreitung des Schwellenwertes in absehbarer Zeit wahrscheinlich macht. Bei einer bundesweiten Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind bundesweit einheitliche schwerwiegende Maßnahmen anzustreben. Bei einer landesweiten Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind landesweit einheitliche schwerwiegende Maßnahmen anzustreben. Die in den Landkreisen, Bezirken oder kreisfreien Städten auftretenden Inzidenzen werden zur Bestimmung des jeweils maßgeblichen Schwellenwerts durch das Robert Koch-Institut wöchentlich festgestellt und veröffentlicht.

(3) Notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des Absatz 1 und der §§ 28 Absatz 1 Satz 1 und 2, 29 bis 31 können, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 erforderlich ist, einzeln oder kumulativ angeordnet werden. Weitere zur Bekämpfung des Coronavirus SARSCoV-2 erforderliche Schutzmaßnahmen bleiben unberührt.

Der Gesetzgeber verzichtet dabei, wenn dieser Entwurf in Kraft tritt, auf konkrete Festlegungen, in welchem zeitlichen und sonstigen Umfang die hier genannten Schutzmaßnahmen zulässig sind. Er begnügt sich insoweit mit den vorstehend (in Fettdruck) markierten Formulierungen, dass

  • die Schutzmaßnahmen verhältnismäßig sein müssen und
  • nur angeordnet werden dürfen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung des Virus erforderlich ist.

Das entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den bisherigen Eilentscheidungen: Geprüft wird immer die Verhältnismäßigkeit und die angemessene zeitliche Befristung. Es bleibt zu hoffen, dass die zuständigen Behörden das Vertrauen, das in diesem weiten Ermessenspielraum liegt, rechtfertigen. Vor allem dann, wenn die Pandemie demnächst hoffentlich bald vorbei ist.

Bemerkenswert ist eine weitere geplante Gesetzesänderung, und zwar in § 13 IfSG. Hier soll Absatz 4 Satz 2 wie folgt gefasst werden:

Das Bundesministerium für Gesundheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates festzulegen, dass bestimmte in Absatz 3 Satz 1 genannte Einrichtungen verpflichtet sind, dem Robert Koch-Institut in pseudonymisierter Form einzelfallbezogen folgende Angaben zu übermitteln: 1. Angaben über von ihnen untersuchte Proben in Bezug auf bestimmte Krankheitserreger (Krankheitserregersurveillance), oder 2. Angaben über das gemeinsame Vorliegen von verschiedenen Krankheitszeichen (syndromische Surveillance)

Laut Begründung des Gesetzentwurfs dazu handelt es sich bei der syndromischen Surveillance um die systematische Ermittlung bestimmter Krankheitsfälle über das Erfassen definierter charakteristischer klinischer Krankheitszeichen bzw. ihrer Kombination, d. h. das Auftreten eines oder mehrerer Symptome, die relativ spezifisch auf bestimmte Infektionskrankheiten hinweisen. Dies ist nicht auf Diagnosecodes nach der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) beschränkt, sondern kann sich auch auf das gemeinsame, nicht zwingend gleichzeitige Auftreten von Symptomen beziehen, beispielsweise Husten oder Schnupfen, wenn in den Tagen zuvor Abgeschlagenheit vorlag. Krankenhäuser und Arztpraxen können verpflichtet werden, Daten über von ihnen untersuchte Patienten in Bezug auf die Diagnose akuter respiratorischer Erkrankungen pseudonymisiert zu übermitteln. Eine Wiederherstellung des Personenbezugs der übermittelten pseudonymisierten Daten soll ausgeschlossen werden.

Hier stellen sich Fragen:

„Surveillance“ klingt natürlich besser als „Überwachung“, aber meint dasselbe. Lauert hier „Big Brother“? Könnte aufgrund der Verordnungsermächtigung auch untersucht werden, ob gegenüber Bürgern, die Symptome von Politikverdrossenheit und „Abgeschlagenheit“ gleichzeitig aufweisen, „Schutzmaßnahmen“ erforderlich sind?

Zur Bekämpfung der Pandemie ist es vermutlich auch sinnvoll, dem Robert-Koch-Institut viele pseudonymisierte Daten zu übermitteln. Aber wir Bürger sollten aufpassen, dass die allzu weiten Ermächtigungen zu Grundrechtseingriffen danach wieder verschwinden und das Infektionsschutzgesetz wieder auf Normalmaß gestutzt wird.

Ingo Krampen, Rechtsanwalt und Mediator

(Quelle: Drucksache 19/23944 Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode)

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